Die bewegte Epoche zwischen 1914 und 1955 hat gerade in Kiel ihre Spuren hinterlassen. Als aufstrebende Industriestadt und Marinestützpunkt in Kaiserreich und Nationalsozialismus erlebte Kiel sowohl wirtschaftliche Blütezeiten als auch großflächige Kriegsschäden. Der langjährige Kieler Stadtarchiv- und Museumsdirektor Jürgen Jensen zeigt diese Zeit in all ihren Facetten.
Knapp 600 Seiten misst Jürgen Jensens neues Buch „Kiel im Zeitalter der Weltkriege. Fotografierte Stadt- und Zeitgeschichte 1914 bis 1955“ und zeigt dabei über 650 Fotografien. Aus über dreißigjähriger Tätigkeit am Kieler Stadtmuseum und Stadtarchiv kannte Jensen bereits einen Großteil der abgedruckten Bilder. Zur Auswahl hatte er etwa die fünffache Menge in den Händen. „Am Ende war es aber eine Auswahl nach Themen. Ich wollte einen Aspekt oder ein Ereignis darstellen und habe gezielt nach Aufnahmen dafür gesucht.“
Die visuelle Dokumentation der wichtigsten zeitgeschichtlichen Stationen bot nicht in jedem Fall große Auswahl. „Für manche Themen findet man erstaunlich wenig. Im Jahr 1919 zum Beispiel erhielten die Kielerinnen das Wahlrecht. Tausende von ihnen gaben in den Folgejahren ihre Stimme ab, doch ich habe keine Aufnahme gefunden, die dieses Ereignis oder den Umstand selbst dokumentiert. Auch über den Prozess der Entnazifizierung gab es vergleichsweise wenige Bilder, obwohl es viele Bereiche der Gesellschaft betraf.“
Zwar startete der Stadthistoriker Aufrufe in der Zeitung, um mit privaten Fotos die Lücken der Geschichte füllen zu können, erhielt über diesen Weg aber nur sehr wenige Glückstreffer. Der Großteil der Fotografien für den Bildband kommt daher aus dem Kieler Stadtarchiv, dessen Bestand hauptsächlich aus den Nachlässen von Kieler Pressefotografen besteht.
Jensen erzählt die Ereignisse der Epoche ganz bewusst mit vielen und großformatigen Bildern, die durch informative Bildunterschriften ergänzt werden. „Was ich zeigen will, kann man nicht textuell vermitteln“, erklärt Jensen. „Ein Foto ist ein unglaublich reicher Zeitzeuge, der unmittelbar auf den Betrachter wirkt.“ Ganz ohne Text kann man die Fotos aber dann doch nicht stehen lassen. Der Entstehungskontext und politische Maßgaben vor allem während des Nationalsozialismus müssen dem Betrachter mitgegeben werden, um alles Gezeigte verstehen zu können. „Gerade bei den Fotografien aus der NS-Zeit muss man darauf achten, dass sie mit einer verherrlichenden Intention gemacht wurden und diese Wirkung als Potential noch besitzen“, betont Jensen.
Viele der 650 Fotos sind Schlüsselbilder, die ganze Generationen bewegten und zu Sinnbildern einer Zeit wurden. So zum Beispiel das gestellte Foto der „Trümmerfrau“, die Backsteine mit einem Hammer von Mörtel befreit. Zwar erledigten Bagger und Räumfahrzeuge den größten Teil der Aufräumarbeiten, doch die Bilder der „Trümmerfrauen“ legten die emotionale Basis für den Neuaufbau.
„Ein weiteres wichtiges Bild ist die mit Schnee bedeckte Trümmerlandschaft vor der Nikolaikirche, durch die sich eine kleine Gruppe Menschen bahnt“, beschreibt Jensen. In seinem Buch zitiert er unter der Aufnahme den Zeitzeugen und Journalisten Karl Rickers: „Wem Fotos dieser Art nicht auch heute [1987] noch vor Augen stehen, der hat nicht die richtigen Maßstäbe für das, was die Menschen damals bewegte.“
(Text: Julia Weilnböck; Foto: © Stadtarchiv Kiel)