In deinem Roman ‚Goldener Boden‘ vermischen sich deine Familiengeschichte und Fiktion. So beginnt der Roman 1896 mit der Auswanderung des 19-jährigen Bauernsohns Gustav aus Stolp in Hinterpommern nach New York und den spannenden Erlebnissen dort…
Tatsächlich ist mein Urgroßvater auf dem HAPAG-Schiff Augusta Victoria nach Amerika ausgewandert – und nach drei Jahren in die Heimat zurückgekehrt. Umkehren, das taten damals viele! Aber da beginnt sofort die Fiktion, denn ich hatte nie Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Die Erzählungen über ihn bewegten als Kind meine Fantasie. Was erlebte einer, der sich jung, bettelarm und allein in so ein Abenteuer stürzte? Im Roman gerät meine Figur Gustav in die Lower East Side Manhattans, das war die damals am dichtesten bevölkerte Gegend der Welt. Multikulti pur! In seinem Dorf in Hinterpommern hingegen sagten sich Fuchs und Igel gute Nacht. Gustav schlägt sich durch, schließt Freundschaft und findet Arbeit bei einem deutschen Friseur.
Im Roman wird Gustav Hirsch ein halbes Jahrhundert später in den 1930er-Jahren zum Antagonisten seines Schwiegersohns. Ist das bewusst so angelegt?
Ja, es kommt zu einem Konflikt, der sich im Dritten Reich in mancher Familie zugetragen haben dürfte. Einer ist dagegen, die anderen sind alle dafür. Gustav ist da bereits Großvater und resistent gegen die braune Begeisterung, die seine eigene Familie erfasst. Die Erfahrungen in New York spielen dabei eine Rolle, auch seine Frömmigkeit. Pommern war ja ein Hort der Nazis. ‚Frontland‘, das war ein Begriff, der schon die 20er-Jahre prägte. Die Grenze zu Polen war mit dem Versailler Vertrag dicht herangerückt. Viele fühlten sich von den Polen bedrängt und von der Regierung in Berlin vernachlässigt. Die Nazis versprachen aufzuräumen – unter ihnen Gustavs Schwiegersohn.
Gerade dieser Teil im Buch, in dem du über die nationalsozialistischen Verflechtungen der Familie Hirsch erzählst, ist schonungslos, aber gleichzeitig dadurch sehr schlüssig und authentisch. Wie war das in deiner eigenen Familie?
Über die Nazi-Vergangenheit der eigenen Familie wird meistens geschwiegen. Auch bei uns war das so. Das Schweigen macht etwas mit den Seelen. Es prägte die Kriegskinder und auch noch die Kriegsenkel. Ich bin in den 60er-Jahren geboren, im Schulunterricht und in der Gesellschaft wurde der Nationalsozialismus intensiv „aufgearbeitet“. Der Anteil, den die eigenen Großeltern hatten, hingegen war tabu. Aber es ist notwendig, darüber nachzudenken und zu sprechen. Es gehört zum Reifeprozess.
Wie hat deine Familie auf den Roman reagiert?
Positiv. Meine Schwester Kristin war schon vor Drucklegung meine Leserin. Ich glaube, meine Mutter und meine Tanten haben bemerkt, dass mein Blick einer ist, der keine Figur denunziert, sondern jede ernst nimmt und nicht zuletzt den Schlagschatten wahrnimmt, den der Krieg über ihre Jugend warf. Dass diese Geschichte an die ihre angelehnt ist, ist ja eindeutig. Sie haben auch verstanden, dass ich als Autorin nicht die Opfer-Perspektive einnehme, die die Heimatvertriebenen hatten. Pommern 1945: Da galt es für mich, auch von den Erfahrungen der Polen zu erzählen.
Hat dir deine Arbeit als Journalistin und Historikerin den nötigen Abstand und gleichzeitig die Suche nach der Wahrheit erleichtert?
Unbedingt. Ich recherchierte über Pommern, über die SS. Mir war bald klar, dass ich einen Roman schreiben muss. Nicht meine Familiengeschichte dokumentieren, sondern Schicksale und Zeitgeschichte verdichten. Mein Anspruch war, mich dem Lebensgefühl in dieser Zeit anzunähern. Ich habe alte Zeitungen, Romane der Zeit gelesen, von Archiven profitiert. Unterstützung hatte ich sowohl in der NY Public Library als auch in Slupsk, früher Stolp, wo mir Robert Kupisinski, Archivar des Museums, half. Und natürlich habe ich all die Plätze aufgesucht, an denen der Roman spielt. Auch Bad Bibra, das heute in Sachsen-Anhalt liegt.
Dahin flieht Gustavs Tochter 1945 mit ihren vier kleinen Mädchen. 1945 wird oft als „Die Stunde der Frauen“ bezeichnet, da auf ihren Schultern die Aufbauarbeit lastete. Auch Clara, die ehemals jüngste Friseurmeisterin Pommerns, schafft es, ihre Töchter durch ihre Arbeit als Friseurin zu ernähren. Was bedeutet das für sie?
Es waren eigentlich „Jahre der Frauen“. In der Not wuchsen die Frauen und Mütter über sich selbst hinaus. Ihre Leistungen sind gar nicht zu überschätzen. Es ist schon verrückt, dass dann später erst einmal sehr spießige Jahre kamen, in denen diese starken Frauen zurück an den Herd gedrängt wurden.
Später flüchtet die Familie aus der sowjetischen Besatzungszone nach Kiel, angetrieben vom eisernen Aufbauwillen der Eltern. Was macht das mit den nachfolgenden Generationen? Die Töchter, zeigt der Roman, zahlen einen Preis…
Die Kriegskinder sind um vieles gebracht worden. Sie waren alles andere als unbeschwert. Die Flüchtlings-Gene sitzen aber auch noch uns Enkeln in den Knochen: Nach vorn schauen und tüchtig sein! Diese so großartige wie manchmal verbissene deutsche Tüchtigkeit hat wohl auch zu tun mit der Erfahrung, dass alles verloren gehen kann. Heute sind die Urenkel junge Erwachsene, da glaub ich, ist das überwunden.
Du erzählst nicht nur deutsche Geschichte in unterschiedlichen Facetten, sondern auch Handwerksgeschichte; dein Titel ‚Goldener Boden‘ aus dem Sprichwort „Handwerk hat goldenen Boden“ spielt darauf an.
Für die Friseure traf es im Wirtschaftswunder in besonderem Maß zu. Mit ihrer Hände Arbeit konnten sie es wieder zu Wohlstand bringen. Der Hunger nach Schönheit und Wohlbefinden in der Gesellschaft war ja riesig. Ich mag den Titel deshalb, weil er mehrdeutig ist: Der goldene Boden hat Risse. Was glänzt, muss nicht unbedingt tragfähig sein …
Der Roman endet in den 50er-Jahren.
Wird es eine Fortsetzung geben?
Jetzt ist zunächst mal die Gegenwart dran. Ich schreibe an einer Erzählung, die ein bisschen böse ist. Darin geht es um Paare und ihre Geheimnisse.
Goldener Boden, Europa Verlag, München 2022,
ISBN 978-3-95890-512-2,
605 Seiten, mit historischen Stadtplänen und
einer Liste ausgewählter Literatur, 26 Euro