Weihnachten in der Nachkriegszeit

Weihnachten bei Familie Benz in Hassee, Saarbrückenstraße 177. Die kleine Ilse vor dem Gabentisch. Fotos: Sammlung Gisela Brendel

„Weihnachten“, das Wort roch nach Bratäpfeln, nach Zimt und Vanille, nach gerösteten Mandeln, Heimlichkeit und emsiger Arbeit, nach liebevollen und verschmitzten Blicken, nach verschlossenen Türen, nach Papiergeraschel und nachunsagbarer Freude!

Weihnachten! Der Zauber, der über diesem Wort lag, begleitete meine vier Jahre ältere Schwester Ilse und mich – Gisela – durch unsere unbeschwerte Kindheit. Wir hatten ein liebevolles und schönes Zuhause in der Saarbrückenstraße 177. Weihnachten aber übertraf alles! Es begann schon in der Adventszeit, während unsere Mutter in der kleinen Küche stand und ein Backblech Plätzchen nach dem anderen aus dem Ofen holte. Alle wurden hübsch dekoriert.

Auf der von den Eltern geerbten Kommode wird bis heute die Weihnachtskrippe aufgestellt und auch die Weihnachtspost gesammelt.

Die verunglückten wurden zum sofortigen Verzehr freigegeben. Und so hielten wir Kinder uns in dieser Zeit auch öfter in der Küche auf, um einen guten Anteil an diesen Plätzchen zu bekommen. Auf der „Hexe“ – das ist ein kleiner runder Ofen mit Einlegeringen – verhieß die Pförtchenpfanne Leckeres oder es wurde Schwarzbrot geröstet, das sich nach außen wölbte und die Mitte für eine Portion Butter freigab, die sich schnell auf dem warmen Brot verteilte. Eine Köstlichkeit!

Tannengestecke kamen in die Zimmer und wurden hübsch dekoriert. Zu diesem Zwecke hatte unsere Mutter bereits Zweige mit Hagebutten und ähnlichem im Herbst getrocknet. Aber auch der Adventsschmuck aus früherer Zeit wurde sorgsam aus dem Seidenpapier genommen und auf den Tannen verteilt.
Die Fensterbank bekam eine dicke Schicht Tannen, die wir Kinder selbst gestalten durften. Es wurde ein buntes Durcheinander mit Lieblings-Weihnachtsmännern und einer Weihnachtsfrau, die irgendein Verwandter aus Amerika mitgebracht hatte und die von den Besuchern immer besonders bestaunt wurde.

Wir Kinder – vornehmlich ich –wurden immer aufgeregter. Unsere Mutter versuchte dies dadurch einzudämmen, dass sie uns mit kleinen Kuchenpäckchen zu den Nachbarn schickte, die in jedem Jahr bereits auf ihren Anteil warteten. Manchmal hörte man diese Leute schon vor Advent fragen: „Frau Benz, backen Sie in diesem Jahr wieder ihre herrlichen Plätzchen?“, was natürlich hieß, dass auch sie es nicht abwarten konnten.
Bevor die Besucher kamen, wurde ein Weihnachtsgesteck aus Tannen, Engelshaar und Lametta an der Tür angebracht. Das war das äußere Zeichen dafür, dass wir uns auf Freunde und Bekannte eingestellt hatten.

Einen Tag vor Heiligabend wurde ich regelmäßig krank und bekam hohes Fieber. Die Anspannung war für mich einfach zu groß. Unser alter Doktor Müller aus der Gärtnerstraße, der seine Besuche stets mit seinen beiden Dackeln machte, wusste Rat: „Die Aufregung ist für die Deern einfach zu groß. Sie braucht keine Arznei. Geben Sie ihr schon ein Geschenk. Dann ist sie wieder gesund“, sprach`s, verschwand in der Küche, schaute in die Töpfe und naschte von den Plätzchen. Er war ein Arzt der alten Schule mit einem hervorragenden Wissen – nicht nur auf medizinischem, sondern insbesondere auf seelischem Gebiet. Meine Mutter tat, wie ihr geheißen, und ich wurde von meinem Fieber befreit. Fortan brauchte er nicht mehr vor Weihnachten zu kommen. Meine Mutter kannte nun die Arznei.

Der 24. Dezember war für meine Eltern sicherlich durch mich auch etwas unruhig. Wollten sie den Tag gemütlich und ruhig gestalten, machte ich ihnen immer einen Strich durch die Rechnung. Das Singen vor dem Tannenbaum nach dem Anzünden der Kerzen musste um einige Strophen verkürzt werden, weil ich ständig ungeduldig am neuen Kleid meiner Mutter zog und endlich zur Bescherung übergehen wollte. Ich konnte nichts sehen, da der Tisch mit einem großen Tuch abgedeckt worden war. Selbst das Ertasten einiger Teile war nicht möglich und endete meistens mit einem strafenden „Gisela!“. Nur Weihnachten hörte sich mein Name so hart an.

Ilse und ich hatten von unserer Großmutter jeweils an unserem ersten Weihnachtsfest einen gläsernen Vogel mit langem, seidigem Schwanz bekommen, der noch von ihrer Mutter stammte. Diese Vögel bekamen im Weihnachtsbaum den schönsten Platz. Nach dem Singen vergewisserten wir uns, dass diese Vögel noch vorhanden waren und liefen zum Esszimmertisch, der zum Anlass der Bescherung ganz ausgezogen war. Das gab ihm mächtige Ausmaße.

Das Tischtuch wurde entfernt. Ein rotes Schleifenband teilte ihn in vier Teile. An dem jeweiligen Platz, den man sonst auch beim Essen einnahm, waren die Geschenke aufgebaut. Die Mutter bekam meistens etwas für den Haushalt, einen Umschlag mit Geld für einen neuen Haargarnhut oder neue Schuhe sowie einige kleine persönliche Sachen. Für den Vater gab es selbst gestrickte Pullover, Schals, Socken, eine neue Krawatte oder ähnliches und für alle einen Bunten Teller.

Für uns Kinder hatte der Weihnachtsmann mächtig tief in den Sack gegriffen. Aber bevor ausgepackt wurde, musste mein Vater immer noch einmal weg, „weil etwas vergessen worden war“. Wir wussten nicht, dass der arme Mensch im Keller verschwand, sich als Weihnachtsmann umzog und zunächst zu dem Nachbarskind Elke ging, um diese zu bescheren. Diesmal war Elke aber nicht sehr artig gewesen und musste eine lange Strafpredigt über sich ergehen lassen. Da es dem Weihnachtsmann unter seinem Bart und dem Flanellanzug recht warm wurde, bekam er von dem Weihnachtspunsch zu trinken. Da er ansonsten keinen Alkohol trank, stieg ihm dieser rasch zu Kopf.

So kam es, dass er diesmal an der Tür lauter als sonst pochte, im Flur kicherte und von der Mutter ermahnt wurde. Er ließ sich erst einmal auf der Couch nieder und forderte uns auf, mit der Bescherung zu beginnen. Sein krankes Herz machte ihm zu schaffen. Wir Kinder sahen es nicht und versanken in unserer eigenen Kinderwelt voller Spannung und Freude.
Ich starrte auf meine Puppenstube, die mir unser Vater schon vor Jahren angefertigt hatte. In einer kleinen, geschnitzten Wiege lag ein neues Baby mit hellblauen Spitzenkleidern. Die Fenster der Puppenstube hatten neue Gardinen bekommen und das Sofa Kissen. Auf dem Küchentisch lag eine weiße Decke, die mit einem winzig kleinen Kreuzstichmuster versehen war. Alle Zimmer hatten neue Tapeten. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen und fiel erst meiner Mutter und dann dem Weihnachtsmann, der vor Rührung feuchte Augen bekam, um den Hals. Und während ich ihn herzte und küsste, drehte ich mich zu meiner Schwester um, die einen Jauchzer der Freude ausstieß, weil die gewünschte Mundharmonika zum Vorschein kam.

Mit der heftigen Drehung riss ich dem Weihnachtsmann den Bart ab. Ich war ganz entsetzt, ihm so wehgetan zu haben, entschuldigte mich und streichelte den armen Kerl. Der aber lachte, weil er beim Liebkosen auch noch seine Plastikbrille verlor, die er mit einer losen Schleife hinter dem Ohr festgebunden hatte. An dieser Schleife war auch die Kapuze befestigt, die nun mitsamt den künstlichen Haaren dem Weihnachtsmann vom Kopf rutschte und eine wohlbekannte Glatze zum Vorschein kommen ließ. „Der sieht ja aus wie Papa! Und wo ist Papa überhaupt?“, schrie ich entsetzt los. In all‘ der Freude und Anspannung war es mir gar nicht aufgefallen, dass unser lieber Vater nicht im Raum war.

Nachdem der Weihnachtsmann enttarnt war, konnte er seine wärmenden Sachen ablegen und mit uns allen zusammen feiern. Das war aber auch das Ende einer wunderschönen Zeit, die so voller Geheimnisse gesteckt hatte und nun der Entzauberung zum Opfer fiel.
Das Weihnachtfest ist noch immer schön. Meine Schwester und ich – mittlerweile 80 Jahre und älter – besitzen immer noch die kleinen Glasvögel, die in jedem Jahr Anspruch auf den schönsten Platz im Baum haben, egal ob nun gerade roter oder blauer Schmuck modern ist. Und jedes Jahr gibt es für die Familien einen Bunten Teller. Der Tisch wird vor der Bescherung mit rotem Schleifenband in die benötigten Teilstücke geteilt und mit einem Tischtuch abgedeckt. Und ich werde immer noch am 23. Dezember krank.

Unsere Eltern leben lange nicht mehr. Aber mein Mann weiß auch ohne Doktor Müller, womit sich mein Fieber senken lässt. Wir erzählen immer wieder die alten Geschichten von früher und sind dankbar für unser schönes Zuhause. Ein Zuhause ist nicht auf irgendeiner Landkarte zu finden. Es ist in den Herzen der Menschen, die wir lieben!
Gisela Brendel